Die "Food Comfort Zone" verlassen

Geschmack ist zutiefst individuell

Oder das „Get out of your Comfort Zone Model“ fürs Essen: 

Vor gut zehn Jahren arbeitete ich für ein internationales Austauschprogramm, bei dem ich jeweils ein Semester lang mit einer Gruppe von ca. 80 jungen Erwachsenen aus der ganzen Welt verschiedene Länder bereiste.

Ein zentrales Thema war dabei das interkulturelle Lernen und ein Modell, das wir dabei nutzen war, das „Comfort Zone Model“. Dieses unterteilt in Situationen, in den wir uns in kulturellen Kontexten befinden können, in drei Zonen:

  1. Die Comfort Zone = unser Zuhause, wo wir uns wohl fühlen und wir alles verstehen und kennen.
  2. Die Learning Zone = Situationen, in denen wir lernen und Erfahrungen machen, andere Denkweisen und Kulturen kennenlernen. Situationen, die zwar neu sind, uns aber keine Angst einjagen.
  3. Die Panic Zone = Hier befinden wir uns Situationen, mit denen wir scheinbar nicht zurecht kommen können. Situationen, die uns zu fremd und anders erscheinen, bzw. die uns Dinge abverlangen, die wir nicht in der Lage sind zu erbringen. 

Ich weiß nicht genau warum, aber vor einigen Tagen musste ich wieder an das Modell denken, als ich über unsere Einstellungen zum Essen nachdachte. Dabei fiel mir auf, dass dieses auf Kulturen - neben unterschiedlichen Länderkulturen - auch auf Arbeitskulturen anwendbare  Modell auch für unseren Umgang mit Lebensmitteln bzw. Speisen funktionieren könnte


Das Essen der Comfort Zone:

Wir alle haben Speisen, die wir auch als Comfort Food bezeichnen könnten. Essen, das nach „zu Hause“ und nach Wohlfühlen schmeckt. Ein Essen, das sich wie eine wärmende Decke um uns schlägt und uns von innen wärmt.

Der erste Schritt ist besser zu verstehen, welche Speisen Comfort Food für uns bedeuten. Hier sind sehr oft Erinnerungen an die Kindheit sehr wichtig. Bei dem einen ist es der Geschmack von Äpfeln und Zimt (der Apfelstrudel der Großmutter) oder bei anderen der Geschmack von sauren Gurken, weil sie z. B. mit gemeinsamen Ausflügen mit dem Vater verbunden waren. 

Daraus kann man ableiten bzw. verallgemeinern, welcher Geschmack und welche Aromen in uns das wohlige Gefühl von Heimat auslösen.

Biologisch sind wir alle so programmiert, dass wir die Geschmacksrichtungen süß, salzig und/oder umami zu verlangen. Diese drei signalisieren uns, dass die Speisen Energie (süß & umami) oder lebenswichtige Mineralstoffe (Salz) beinhalten. Somit gehören besonders Lebensmittel, die einen dieser Geschmäcker (bzw. eine Kombination) beinhalten, zu unserem Comfort Food.


Das Essen der Panic Zone:

In der Panic Zone befinden sich Speisen und Lebensmittel, bzw. Aromen und Geschmacksrichtungen, die wir nicht er- bzw. vertragen. Die Gründe dafür können auf Erinnerungen (schlechte Erfahrungen mit bestimmten Lebensmitteln), Unverträglichkeiten/Allergien oder genetischer Besonderheiten (wie z. B. sogenannte "super taster", die alles sehr intensiv schmecken und deshalb kaum Bitteres essen können) basieren.

Wenn man sich bewusst darüber wird, von welchen Speisen oder Aromen man die Finger lassen sollte, heißt dies im Umkehrschluss, alles andere kann und sollte man ruhig (aus)probieren. Denn dies liegt in der „Learning Zone.


Learning Zone:

Die Learning Zone ist also die Probierzone. Hier können wir unseren Esshorizont erweitern und neue Speisen und Aromen kennenlernen.

Genauso wie wie wir neue Erfahrungen mit Kulturen machen und andere Denkweisen kennenlernen sollten, ist es wichtig beim Essen, neues zu probieren!


Warum ist es wichtig?

Die Frage ist nun, warum sollte man sich überhaupt Gedanken machen, wo die eigene Comfort, Learning oder Panic Zone befindet?

Ich glaube, wenn wir uns bewusst gemacht haben, wo unsere Comfort und und unsere Panic Zone liegen, können wir besser in die Learning Zone tauchen und neues probieren und uns uns vielseitiger ernähren.

Es gibt viele Anzeichen dafür, dass ein Leben mit vielseitigem Essen erfüllender und gesünder ist:

  • Probieren regt unser Gehirn an und besonders positive Probiererlebnisse schütten Glückshormone aus. 
  • Den Geschmack zu erweitern, heißt vielseitiger zu essen. Vielseitigkeit in der Ernährung bedeutet, dass wir unterschiedliche Nährstoffe, Vitamine etc. zu uns nehmen und so gesünder essen. 
  • Probieren zeigt uns bereits verlernte Geschmacksrichtungen neu zu entdecken. (siehe auch diesen interessanten Artikel in der FAZ)

Wenn wir also ein Bewusstsein dafür entwickeln, was für uns der sichere Hafen ist und wo die See zu rau für uns ist, können wir selbstbewusst aufs Meer fahren und neue Ufer entdecken!

Unsere individuelle Comfort Zone

Bei jedem Menschen sind sowohl der Inhalt der Kreise (was ist mein Comfort Food) als auch deren Größe unterschiedlich. Bei mir ist der Kreis der Comfort Zone relativ klein: Ich habe wenige Comfort Foods, und es fällt mir schwer auf die Frage zu antworten: „Was ist Dein Lieblingsessen?“ zu antworten. Auch die Panic Zone ist bei mir sehr klein: Es gibt wenige Speisen, die ich nicht ertrage und habe zum Glück keine Unverträglichkeiten oder Allergien. Meine Learning Zone dagegen ist sehr groß. Ich probiere sehr gern neues Essen und liebe die Vielfalt.

Comfort Zonen beim Essen

Bei anderen Menschen sieht es ganz anders aus. Die Panic Zone meiner 5-jährigen Tochter scheint aktuell riesig zu sein. Comfort Food (meist Pizza, Nudeln oder Süßigkeiten) ist mittelgroß und die Learning Zone scheint aktuell gesperrt zu sein, bzw. sie ist auffällig klein. Zum Glück ist es bei Kindern eine Momentaufnahme, die man durchs Vorleben und durch das ständig erneute Anbieten verschiedener Speisen überwinden kann. Man kann's auf jeden Fall versuchen...

Etwas anders verhält es sich bei älteren Menschen. Hier ist es natürlich schwieriger, das Bewusstsein und die Handlungen zu verändern. Meine Oma hat ihr ganzes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Sie isst seit Jahrzehnten das gleiche bzw. hat sich über den Verlauf ihres Lebens eine bestimmte Auswahl an Speisen aufgebaut, die sie im Laufe der Jahreszeiten isst. Ihre Comfort Zone ist somit gefüllt mit recht vielen Speisen. Mit zunehmendem Alter wurde ihre Bereitschaft sich in die Learning Zone zu begeben immer kleiner. Da sie sich selbst kaum in Situationen begibt in denen sie Neues probiert, ist die Größe der Panic Zone etwas schwieriger genau zu benennen. Unbewusst ist sie wahrscheinlich noch größer, als man durch das Modell zeigen kann (es sei denn, man benutzt einen insgesamt größeren Kreis).

Ich glaube, dass es somit wichtig ist, möglichst früh - also in der Kindheit und dem frühen Erwachsensein - viel in die Learning Zone zu gehen und diese kontinuierlich zu vergrößern. 

Ein sensibleres Bewusstsein dem Essen und dem Geschmack gegenüber eröffnet uns nicht nur neue Geschmackswelten in der „Learning Zone“, sondern kann laut Birger Priddat auch alte Spuren in der Comfort Zone sichtbar machen:


„Was wäre, wenn wir den Geschmack als einen Detektor ansähen, der uns, wenn gut, neue Welten erschließt, aber vor allem alte reanimiert: ein Medium des tiefen Erinnerns, das uns durch Nachdenken so nicht gelingt. Geschmack ist dann eine Spur, die uns auf Wege führt, die wir sonst nicht sähen.“ (Aus Texturen Nr. 3 - Essen "Wozu Geschmack? Erfahrungen deutscher Esskultur" von Birger Priddat, UdK Verlag)

In diesem Sinne bleibt neugierig!

Jörn Gutowski
Gründer, TRY FOODS