Wie entsteht Geschmack?

 Vögel essen reife Früchte

Der Trend des "functional food" ist mir ein Graus. Dabei geht es um Essen mit Funktion, also Essen, dass angeblich besonders gesund ist, bzw. uns stark, schön oder sexy machen soll. Stichworte hier sind z.B. "kalorienarm", "Superfoods", "Paleo" oder "proteinreich". Ich liebe Essen aber nicht wegen der Proteine oder wenigen Kalorien, sondern wegen des Geschmacks. 

Früher dachte ich, dass dies ein rein genussorientierter Ansatz ist, ein hedonistisches Streben nach Essen, dass mich glücklich macht. Allerdings habe ich mittlerweile eine ganze Reihe an handfesten Fakten gefunden, dass Geschmack zutiefst mit dem Überleben und der evolutionären Entwicklung von uns Menschen zusammenhängt. Geschmack hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind: Eine Spezies, die sich vor allem dank der Entwicklung unseres Gehirns weit von der Tierwelt abgekoppelt hat. (Ob dies gut oder schlecht ist, lass ich andere beurteilen...;-)

Wenn man sich Geschmack nähert, so kommen einige grundsätzliche Fragen auf: Wie und warum nehmen wir Menschen Geschmack wahr und wie und warum entsteht Geschmack überhaupt in pflanzlichen und tierischem Material? 

In diesem Artikel möchte ich auf die zweite Frage eingehen und weitergeben, was ich über die Entstehung von Geschmack gelernt habe. 

 

Geschmack in Pflanzen

Wir Menschen nehmen vor allem pflanzliches und tierisches Material als Nahrungsmittel zu uns. Pflanzen entwickeln Geschmacks- bzw. Aromastoffe, um entweder Feinde abzuwehren oder Freunde anzuziehen. Man kann diese Stoffe deshalb auch In Lock- und Abwehrstoffe unterscheiden.

Die Pflanze hat als oberstes Ziel sich fortzupflanzen. Da sich ein Strauch oder ein Baum aber nicht bewegen können, würden ohne Mithilfe von Tieren die Keimlinge (Kerne der Früchte) nur in unmittelbarer Nähe der Mutterpflanze zu Boden fallen. Somit würden sich "Mutter und Nachwuchs" gegenseitig um Platz und Nährstoffe im Boden streiten. Es braucht deshalb Tiere, die die Keimlinge an andere Orte tragen können. Deshalb sollen Tiere die Früchte fressen. Entweder spucken sie die Kerne aus oder schlucken sie hinunter und scheiden sie später an anderen Orten wieder aus. Durch die Verteilung der Keimlinge an verschiedene Orte hat die Pflanze viel bessere Chancen sich erfolgreich fortzuplanzen. 

Tiere sind natürlich keine altruistischen Wesen, die einfach nur den Pflanzen helfen wollen. Sie sind vielmehr auf der Suche nach Nahrung. Sie werden von der Farbe und dem süßlichen Geruch der Früchte angezogen. Beides signalisiert die optimale Reife der Früchte. Mit der Reife ist der Zeitpunkt erreicht, an dem die größtmögliche Menge an Zucker (=Energie) und anderen Nährstoffen in der Frucht steckt. Gleichzeitig bedeutet die Reife, dass die Keimlinge soweit sind, neue Pflanzen entstehen zu lassen. Somit schaffen Pflanzen eine wunderbare Win-win-Situation für sich und die Tiere. 

Abwehrstoffe wie z.B. Koffein bei Kaffeekirschen oder auch Polyphenole bei Oliven sollen dagegen Tiere (insbesondere Insekten) davon abhalten, die Früchte anzugreifen und zu beschädigen. Diese Abwehrstoffe schmecken meist bitter. Vor der Reife besitzen Früchte und auch Gemüse meist einen sauren Geschmack, den weder Tiere noch Menschen mögen. Saures ist genetisch mit weniger Kalorien und schlecht Verdaulichem verbunden. 

Kein Wunder also, dass auch wir Menschen eine natürliche Vorliebe für Süßes haben und von der satten Farbe reifer Früchte angezogen werden. Denn als unsere Vorfahren noch Sammler und Jäger waren, suchten sie genauso wie die Tiere nach reifen Beeren oder anderen Früchten in der Wildnis. 

Genauso wie Tiere haben wir Menschen auch Aversionen für Bitteres und Saures entwickelt. (Allerdings sollte man wissen, dass einige Bitterstoffe wie Polyphenole gesund für uns Menschen sind...)

 

Traditionelles Kochen über offenem Feuer 

 

Kulturelle Meisterleistung: Kochen verstärkt den Geschmack

Unsere Nase (unser Geruch) wird nicht nur von reifen Früchten angezogen, sondern wir Menschen lieben auch den Duft und Geschmack von Gekochtem (Geschmortem, Gebratenem, Geröstetem). 

Um dies anschaulich zu machen: Wenn man ein rohes Huhn in einen Topf mit kaltem Wasser legt, riecht man kaum etwas. Das rohe Hühnerfleisch hat wenig Geschmack. Lässt man das Huhn aber für eine gewisse Zeit in kochendem Wasser garen, so wird die gesamte Küche mit einem wunderbaren Duft erfüllt. Oder für Kaffeetrinker: Eine rohe Kaffeebohne hat ebenfalls so gut wie keinen Geruch und sehr wenig Geschmack. Erst durch die Röstung entstehen Hunderte von Aromen, die den Konsum von (gutem) Kaffee zu einem Genuss machen.

Auch hierbei hat sich die Natur wieder etwas gedacht: Wir werden von Duft und Geschmack angezogen, da zubereitete Speisen für uns Menschen besser verdaulich sind, bzw. bestimmte Inhaltstoffe werden nur durchs Kochen für unseren Körper zugänglich oder überhaupt erst verzehrbar. 

Die Energie der Wärme (des Feuers, der Herdplatte, des Ofens) bricht nämlich komplexe Kohlenhydrate und Proteine auf und macht sie leichter verdaulich.

Einige Wissenschaftler meinen, dass wir Menschen uns nur deshalb so entwickeln konnten, weil unsere Vorfahren zu kochen begannen. Dadurch konnten sie pro Mahlzeit viel mehr Energie aufnehmen und mussten viel weniger Zeit mit Kauen und Verdauen verbringen! Dank der höheren Energiezufuhr konnte das Gehirn wachsen und durch die freigewordene Zeit, konnte sich der Mensch so praktische Dinge wie das Rad oder den Kühlschrank ausdenken.

Das Kochen macht Kohlenhydrate und Proteine aber nicht nur leichter verdaulich, sondern durch das Aufbrechen der langen Kohlenhydrat- und Proteinmoleküle entstehen - vereinfacht gesagt - viele neue aromatische Moleküle, die für eine geschmackliche Komplexität sorgen und die z.B. Räume so wunderbar nach geröstetem Kaffee oder nach gekochter Hühnersuppe duften lassen. 

(Wer mehr über die kulturelle Meisterleistung des Kochens erfahren möchte, dem lege ich Michael Pollans Buch "Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation" ans Herz.)

 

Was hat es mit Umami und Glutamat auf sich? 

Neben dem oben beschriebenen natürlichen Verlangen nach Süßem haben Menschen auch ein Verlangen nach Salzigem (wir benötigen das Mineral Salz zum Überleben) und nach Umami (Herzhaftem). Der Umami-Geschmack  entsteht durch Glutaminsäure, eine bestimmte Aminosäure, deren Salze und Ester Glutamat genannt werden. Aminosäuren ergeben wiederum Proteine, die neben Kohlenhydraten überlebenswichtige Energiespender sind.

Glutamat wurde lange Zeit als Bösewicht gesehen, da es gern in industriellen Fertiggerichten oder billigen Restaurants als Geschmacksverstärker genutzt wurde. Das enthaltene Mononatriumglutamat wurde in Laboren produziert. Glutamat und verwandte Umami-produzierende Stoffe kommen allerdings auch natürlich in Lebensmitteln vor. Neben tierischem Fleisch ist es auch in Pilzen, Tomaten oder Parmesankäse enthalten. 

 

Geschmack braucht Zeit

Einer der Aspekte beim Thema Geschmack, der mich besonders fasziniert, ist der Zusammenhang zwischen Geschmack und Zeit, denn Geschmack benötigt in den allermeisten Fällen Zeit. Dies konnte ich bei meiner Beschäftigung mit unterschiedlichsten Lebens- und Genussmitteln erleben. Ein 50-Jahre-gereifter Balsamico Tradizionale di Modena ist geschmacklich wesentlich komplexer als ein junger. Das Gleiche kann man auch bei Käse, Wein oder Whisky erleben.

Auch langes Kochen bzw. Schmoren von Speisen erhöht die Aromen- und Geschmacksvielfalt. Je länger eine Hühnersuppe oder eine Tomatensoße vor sich hinköcheln dürfen, desto mehr werden wir mit einer ganz neuen Geschmackstiefe belohnt. Denn hier entsteht Glutamat auf natürliche Art und Weise. Auch eher faserige Fleischstücke werden durch langes Schmoren zart wie Butter. Das zähe Kollagen wird in weiche, leicht verdauliche Masse verwandelt. 

Selbst bei Gemüsen wie zum Beispiel Möhren ist es nicht so, dass man sie verkochen könnte, wie mir neulich Prof. Dr. Vilgis in einem Gespräch für meinen Geschmackssache Podcast (hier gehts zum Podcast) erklärte. Thomas Vilgis empfiehlt, eine Karotte mit Butter und etwas Wasser drei Stunden zu köcheln und dann ein Püree daraus zu machen. Als Dank für unsere Geduld bekämen wir ein süßes Geschmackserlebnis. Dieses Püree könne man laut Thomas Vilgis sogar als Füllung für eine Praline nehmen!  

Auch bei der Karotte gibt es einen Zusammenhang zwischen Nährstoffen und der Kochdauer. Zwar geht Vitamin C verloren, aber dafür werden durch den langen Kochprozess viele andere Vitamine (wie Provitamin A) erst für uns verfügbar. 

Ist es nicht faszinierend, wie guter Geschmack und vielfältige Aromatik mit den für uns wichtigen Nährstoffen zusammenhängen? Geschmack ist also primär für unser Überleben und nicht für unser Vergnügen entstanden. Umso schöner, dass auch hier eine so wunderbare Win-Win-Situation entstanden ist. Geschmack leitet uns sowohl zu Nährstoffen als auch zu vielfältigen Genussmomenten! 

In diesem Sinne bleibt neugierig!

Euer Jörn
Gründer, TRY FOODS