Was ist Naturwein und wie schmeckt er?

Raw Wine Messe in Berlin


Naturweine sind aktuell ein großer Trend in Berliner Weinbars und Weinläden. Auch wenn ich schon einige Naturweine gekostet habe, wusste ich bis vor kurzem nicht wirklich, was genau Naturweine geschmacklich auszeichnet und wie man sie von konventionellen Weinen abgrenzen kann. Da kommt die RAW WINE Messe in Berlin mit Naturweingütern aus ganz Europa genau richtig. Ich mache mich also an einem grauen Montagnachmittag im Dezember auf den Weg, um den Geist und den Geschmack von Naturweinen besser zu verstehen.


Angekommen in der Markthalle IX in Kreuzberg bin ich überwältigt. An über 150 Ständen kann ich Weine probieren! Ein Gefühl der Überforderung setzt ein. Wie soll ich mich bei meinem limitierten Wissen über Naturweine zurechtfinden? Und wo soll ich anfangen? Ich kenne kein einziges der anwesenden Weingüter! 

Zum Glück treffe ich Pamela Dorsch, Gründerin vom Büro für kulinarische Maßnahmen und Organisatorin des Naschmarkts in der Markthalle IX. Sie nimmt mich gleich zum ältesten Naturweingut aus dem Bordeaux mit. So ist der Start schon mal geglückt! Und eigentlich keine schlechte Idee, bei einem der traditionellsten Naturweinhersteller mit meiner Verkostung zu beginnen. 

Naturwein ist keine neue Modeerscheinung 

Für mich ist die Naturweinbewegung bis jetzt eine neue Erscheinung, die in Restaurants in Kopenhagen, London und New York ihren Ursprung hat. Mein Bild eines Naturwinzers ist das eines jungen Mannes mit Bart und sonnengegerbter Haut, Typ Surfer. 

Naturweine sind aber keine neue Erfindung. Auch wenn es stimmt, dass es ein neuer Trend ist, so ist die Naturweinherstellung eigentlich die alte, traditionelle Methode der Weingewinnung. Dies begreife ich am Stand von Chateau le Puy aus dem Bordeaux, zum dem mich Pamela führt. Seit über 400 Jahren (!!!) produziert die Familie Amoreau Weine auf die exakt gleiche Art und Weise. Sie haben also einfach nie begonnen - wie viele andere Winzer*innen - die  Errungenschaften der Önologie und der Technik für ihre Weinherstellung zu nutzen. So kann ich am Stand Weine probieren, wie sie wohl die Menschen vor Hunderten Jahren getrunken haben. 

"Bei unseren Weinen soll man konsequent den Jahrgang schmecken."  - Le Puy Mitarbeiterin
 

Das Weingut le Puy setzt seine Weine komplett der Natur aus. Jeder Jahrgang ist anders. So ist Chateau Le Puy auch anfälliger für Ernteausfälle als konventionell geführte Weingüter. Denn hier wird nicht mit Tricks im Weinkeller gearbeitet, um auch bei widrigen Wetterumständen und schlechter Traubenqualität noch auf Menge zu kommen. Natürlich kann Le Puy mit seinen vielen Jahrgängen, die zum Teil noch in den Kellern des Weinguts liegen, leichter schlechte Jahrgänge ausgleichen als ein junger Winzer, der gerade erst anfängt. Allerdings ist es bewundernswert, dass Le Puy seit so vielen Generationen konsequent seine Philosophie verfolgt und sich nicht verbiegt, um den Ertrag und damit den Gewinn zu maximieren.  

 

Was genau ist Naturwein? 

Bei den Gesprächen mit den verschiedenen Winzer*innen auf der Messe merke ich schnell, dass die Philosophie bzw. der Ansatz, wie man Wein anbaut und herstellt, ganz klar im Mittelpunkt steht. Also, was macht Naturwein genau aus? 

Da es keine gesetzlichen Vorgaben gibt, kann man keine genaue Definition geben, was Naturwein auszeichnet. Das fängt übrigens schon beim Namen an. Viele nennen die Weine Naturweine (oder vin naturel, natural wine). Andere Namen sind aber auch "naked wine" oder "raw wine" - wie auch der Name der Messe. 

"Es gibt keinen Naturwein."  - Frank John, Winzer aus der Pfalz

Dieser Satz, den mir der Pfälzer Winzer Frank John an seinem Stand sagt, lässt mich für einen Moment stutzen. Frank John argumentiert, dass kein Wein, den wir trinken, natürlich sei, sondern immer von Menschen und von Technik (neuer oder alter Art) be- bzw. verarbeitet wird. Somit kam man auch nicht von Naturweinen sprechen, sondern eher von "naturnahen Weinen". Auch wenn man es auf den ersten Blick für semantische Haarspalterei halten könnte, so macht das nach kurzem Überlegen doch Sinn. Denn Naturwein ist ein absoluter Begriff; "Naturnah" dagegen ist eine Annäherung an die Natur.

Viele Naturwinzer*innen verzichten komplett auf Maschinen bei der Ernte, während es laut Frank John auch welche gebe, die Vollernter (landwirtschaftliche Erntemaschine) benutzen. Einige verzichten komplett auf Schwefel, während andere etwas Schwefel hinzusetzen. 

Genauso wenig wie alle konventionellen Winzer*innen gleich arbeiten, ist das auch bei Naturwinzer*innen nicht der Fall. Die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Anbaumethoden sind fließend und nicht schwarz-weiß. 

Auch wenn ich weiterhin den Begriff Naturwein benutze, behalte ich für mich im Kopf, dass es sich nicht um eine absolute Kategorie handelt und Naturwein unterschiedliche Dinge für unterschiedliche Leute bedeuten kann.

Um ein Beispiel zu zeigen, wie man Naturweine kategorisieren kann, möchte ich hier die Kriterien auflisten, die die Messeveranstalter*innen der Raw Wine an ihre Austeller*innen geben:

  • Das gesamte Weingut muss biologisch oder biodynamisch bewirtschaftet werden. 
  • Die Trauben müssen händisch gelesen werden.
  • Ausschließlich natürliche Hefen sind für die Gärung erlaubt, Ausnahme ist die zweite Gärung bei Schaumweinen.
  • Keine Additive in der Weinbereitung sind erlaubt mit Ausnahme von Schwefel mit einem Maximalgehalt von 70 mg/Liter. (Bei konventionellen Weißweinen lag der Grenzwert für den Jahrgang 2014 z.B. bei 250 mg/Liter)
  • Keine Eingriffe im Weinwerdungsprozess wie Konzentration, Osmose und so weiter sind erlaubt. (Osmose = Maßnahme, bei dem der Most entwässert und somit konzentrierter wird.)
  • Wird ein Wein chaptalisiert, so ist dies ausdrücklich im Katalog vermerkt. (chaptalisieren =  Maßnahme zur Erhöhung des endgültigen Alkoholgehalts von Wein durch Zugabe von Zucker zum Traubensaft.)
  • Die meisten Weine sind unfiltriert, ist dies nicht der Fall, so wird das ebenfalls vermerkt.
  • Alle präsentierten Weine sind sowohl für Vegetarier als auch Veganer verträglich.

Dies ist also eine mögliche Eingrenzung von Naturweinen. Es geht um möglichst wenig Einfluss auf die Natürlichkeit des Produkts, sei es im Weinberg bei Anbau und Ernte oder im Keller bei der Herstellung. Durch die Gespräche mit den Winzer*innen auf der Raw Wine hat sich folgende Beschreibung von Naturweinen für mich herauskristallisiert:

Naturwein heißt Vertrauen. Der Natur vertrauen, dass sie etwas liefert, was gut und richtig ist. Naturwein heißt Offenheit: Man muss offen für die Veränderungen im Wein von Jahrgang zu Jahrgang sein. Naturwinzer*innen gehen mit der Natur. Sie folgen ihr und arbeiten mit ihr und nicht gegen sie.

 

Wie schmeckt Naturwein? 

Die Naturweine, die ich vor der Raw Wine Messe probiert habe, schmecken meiner Erinnerung nach alle sehr "funky". Sie sind sehr trüb und besonders die Weißweine haben ungewöhnliche Noten, die wild und ungehobelt schmecken. Manchmal mag ich sie und manchmal sind mir die Aromen zu fremd. 

Als ich den klaren Riesling von Frank John bei der Raw Wine im Glas habe und ihn probiere, bin ich überrascht, dass es sich hierbei auch um einen Naturwein handelt. Der im Edelstahl gelagerte Wein wird vorsichtig abgefüllt, nachdem sich die Trübstoffe auf den Boden des Tanks gelegt haben. So ist der Wein auch ohne Filtrierung sehr klar in Farbe und auch Geschmack. Ein wunderbarer Wein, den ich in einer Blindverkostung niemals als einen Naturwein erkannt hätte. 

Nach der ersten Empfehlung von Pamela Dorsch erhalte ich weitere Hilfe von Christian, dem Geschäftsführer der Weinhandlung Suff. Auf seinen Tipp hin gehe ich zu den Ständen von Pierre Frick aus dem Elsaß und Afianes aus Griechenland. Bei beiden probiere ich Weine, die ich so noch nie getrunken habe und die ich aromatisch kaum einordnen kann. Aber kurz, sie sind verdammt lecker! 

Die Rotweine vom Weingut Afianes von der Insel Ikaria überraschen durch die sehr helle, fast durchsichtige Farbe und die vielen Sedimente. Für den Winzer Konstantinos Afianes sind die Sedimente (die kein Weinstein oder -Kristalle sind, sondern Teile der Frucht) etwas ganz besonderes. Sie seien gesund und würden dem Wein mehr Geschmack geben. Der Wein, der unten in den Fässern bzw. Amphoren lagert, sei der beste: 

"The taste of the wine from the bottom is more layered. It has more body and is more healthy."  - Konstatinos Afianes

Der Geschmack des Weines ist anders als die dünne Farbe vermuten lässt. Er hat Kraft und ist in der Tat komplex und vielschichtig. Die Sedimente sind zwar visuell keine Schönheit, aber sie stören mich beim Trinken überhaupt nicht. 

Wie ich an diesen Beispielen sehr schnell merke, kann man den Geschmack von Naturweinen nicht verallgemeinern. Naturwein kann viele geschmackliche Gesichter haben. So sagt mir der Moselwinzer Rudolf Trossen:

"Naturwein ist eine geschmackliche Vielgestalt. Er ist die Verdichtung, das Konzentrat eines ganzen Jahres."  - Rudolf Trossen

Rudolf Trossen macht seit 1978 Naturweine und ist somit einer der Pioniere in Deutschland. Er ist einer, der den biodynamischen Anbau lebt und der sehr außergewöhnliche Naturweine produziert. Der Lehre der Biodynamik nach Rudolf Steiner folgend legt Rudolf Trossen sehr großen Wert auf die Böden in seinen Weinbergen.

"Der Geschmack eines Naturweins kommt vom Boden."  - Rudolf Trossen

Zwei seiner Rieslinge, die ich probieren darf, sind sehr dickflüssig, fast wie ein Sirup. Sie sind aber nicht süß, sondern trocken und aromatisch extrem vielschichtig. Der typische Mosel-Stinker kommt leicht durch, gepaart mit Frucht und Mineralität. Sehr ungewöhnlich. Der Mitarbeiter von Rudolf Trossen erklärt mir zur Viskosität (Fließverhalten von Flüssigkeiten) übrigens, dass der Wein sich mit der Zeit in der Flasche auch wieder verdünnen würde. Aktuelle stecke er - wie es Rudolf Trossen beschreibt - in der "Pubertät" und ist aufmüpfig und dickköpfig (bzw. dickflüssig), wie Teenager halt sein können. 

 

Mein Fazit:

Natürlich ist ein Nachmittag auf einer Messe eine sehr begrenzte Zeit, um so ein komplexes Gebiet wie den Naturwein richtig zu verstehen, aber ich habe ein ganz gutes Gefühl für den Geist und die Bandbreite des Geschmacks von Naturweinen bekommen. Es ist auf jeden Fall ein Fundament, auf dem es sich weiter aufbauen bzw. trinken lässt.

In diesem Sinne, bleibt neugierig!

Euer
Jörn Gutowski 
Gründer, TRY FOODS